Mehdorn, Mann meiner Träume 3
(Auch veröffentlicht auf fembio und von Peter Kleinert auf www.nrhz.de)
Auch wenn inzwischen schon ein Nachfolger bei der Bahn auf seinen Posten wartet, nennt das Volk auch den Neuen weiter Mehdorn, den „neuen Mehdorn“ oder „Mehdorn 2,“ getreu dem alten 68ger-Spruch, dass es sich bei den Spitzen von Politik und Wirtschaft eh nur um Charaktermasken handelt.
Während Mehdorn 1 für seine vielen Verdienste noch um eine angemessene Altersrente und Abfindung kämpft, wissen wir vom neuen Bahnchef nur, dass er aus der Autobranche kommt.
Das weiß auch Herr Schenk, der alle paar Wochen mit der Regionalbahn, die zwischen Uelzen und Magdeburg verkehrt, von dem kleinen Bahnhof Schnega nach Magdeburg fahren muss. Diese Bahn ist mit großem Pomp ein paar Jahre nach der Wende als alte „Amerika-Linie“, die früher zwischen Berlin und Bremerhaven verkehrte, einspurig wieder ausgebaut worden mit dem Versprechen, bald zweispurig zu werden. An manchen Stellen gibt es auch als Ausweichmöglichkeit für schnellere oder Güterzüge eine zweite Spur, so auch auf dem Bahnhof Schnega. Herr Schenk weiß nun aber auch seit über zehn Jahren, dass der Regionalzug in beide Richtungen ausnahmslos auf Gleis 1 hält und Gleis 2 auf der anderen Seite von Anfang an niemals irgendeinen Publikumsverkehr hatte. Die An-und Abfahrzeiten haben sich immer mal wieder um einige Minuten mit den neuen Fahrplänen verschoben, die zugeordneten Bahnsteige nie. Das sind Erfahrungswerte von Einheimischen, darum gucken sie erst gar nicht mehr auf die Gleisangabe der doppelten DIN-A4-Seite, die mit jedem neuen Fahrplan an die Wand des offenen Wartehäuschens geklebt wird. Fremde, die von Schnega der Strasse zum Bahnhof folgen, landen allerdings automatisch auf Bahnsteig 2. Gleis 2 hatte zwar nie Publikumsverkehr, immer aber auch eine kleine überdachte Bude mit Bank, die neuen Fahrpläne wurden auch dort ausgehängt und es gab jahrelang auch dort einen Fahrkartenautomaten. Nach ersten Irritationen über diese Doppelung, die keine echte war, haben die einheimischen Bahnbenutzer vor vielen Jahren begriffen, dass der Zug nur auf Gleis 1 hält und rufen auswärtigen Fahrgästen, die ratlos auf Gleis 2 stehen, dies auch jeweils freundlich zu. Wenn diese Leute Glück haben und früh genug gekommen sind, schaffen sie auch noch den Weg auf Gleis 1, zu dem sie dann allerdings ungefähr 600 Meter laufen müssen. Die Richtung, die sie dazu einschlagen müssen, ist aber nirgendwo markiert. Nach dem Gefühl wenden sich die Leute auf dem Bahnsteig eher nach links, denn da ist die Fläche eben und man hat das andere Gleis gegenüber im Blick und sucht den erlaubten Übergang, den es aber nicht gibt. rechts ist das Gelände relativ unübersichtlich, die Autostrasse geht den Berg hinunter in einen langen Tunnel mit einem Bürgersteig von 40-50 cm Breite. So kann es vorkommen, dass diese irritierten Reisenden mehrmals wieder auf Bahnsteig 2 zurückgehen und ratlos noch einmal nach einem Übergang über die Gleise suchen, weil sie einfach nicht glauben können, dass sie zurück auf die Landstrasse müssen, um die 20 Meter auf die andere Seite zu überwinden. Vielleicht sehen sie noch einen kleinen Weg, der aber direkt auf die Oberkante des Tunnelendes zuzuführen und für Instandsetzungsarbeiten da zu sein scheint. Er ist auch durch nichts markiert und kein Einheimischer, den ich fragte, hat je von ihm gehört oder ihn als Weg ernst genommen. Tatsächlich führt dieser kleine Weg aber auf eine Galerie unter der Tunneldecke, die vom Auto aus nicht zu sehen ist und kürzt den Weg auf die andere Seite der Gleise um mindestens hundert Meter ab. Wenn man es denn wüsste! Die meisten Leute, die sich geirrt haben, versuchen es zu Fuss ohne Autounfall durch den Tunnel zu schaffen, in die Strasse Richtung Harpe einzubiegen, bevor sie den Eingang zu Bahnsteig 1 finden. Obwohl Deutschland sonst in Verkehrsschildern nahezu untergeht, ist hier keinerlei Hinweis. Nach einem Fußmarsch von je nach Kondition im günstigsten Fall zehn Minuten, mit Gepäck wesentlich länger, ist der Zug meist weg, auch wenn die Leute großzügig ihre Wartezeit berechnet haben und der nächste kommt frühestens zwei Stunden später.
So war es früher und im Lauf der Zeit kam es auch eher selten vor, dass auf Gleis 2 überhaupt jemand stand, weil sich die Unbenutzbarkeit herumgesprochen hatte und weil die Reisenden auf Gleis 1 lautstark und hilfsbereit und rechtzeitig den Weg – durch den Tunnel – auf die andere Seite beschrieben.
Die Leute, die schon auf der richtigen Seite standen, hatten nun nur noch die anderen Probleme zu bewältigen:
Der Fahrscheinautomat auf Gleis 1 war normalerweise kaputt und vor einigen Monaten noch konnten die in Schnega zusteigenden Reisenden problemlos ihre Fahrkarten bei den verständnisvollen Schaffnern im Zug lösen. Seit die Bahn aber die Strafen drastisch erhöht und Fahrscheinverkauf in den Zügen kategorisch verboten hatte, war das nicht mehr möglich.
Abgesehen davon, dass die meisten Reisenden auf dem Land sowieso unerfahren mit Computern sind, mussten auch die Gutwilligsten und Computerkundigsten feststellen, dass die Fahrkarte nach Magdeburg gar nicht an dem Automaten gelöst werden kann, weil die Stadt auf der Tabelle nicht enthalten ist und also auch die entsprechende Nummer nicht eingegeben werden kann, obwohl die einzigen Züge, der überhaupt in Schnega halten, nur zwischen Magdeburg und Uelzen verkehren. Auf der Tabelle stehen zwar Munster und Münster oder Cuxhaven, nicht aber die Landeshauptstadt und Endhaltestelle.
Der erwähnte Herr Schenk fährt also seit dem Verkaufsverbot von Fahrkarten in Zügen ein paar Tage vor Antritt seiner Reise mit dem einzigen täglich verkehrenden Bus von seinem Dorf 20 km in die nächste größere Stadt nach Salzwedel, um dort am Bahnhof seine Fahrkarte von Schnega nach Magdeburg zu kaufen. Dabei hat er Glück, dass er mit dem Bus die Zeit erwischt, zu der der Bahn-Schalter geöffnet hat. Er muss dann für den Rückweg wieder einige Stunden warten, bevor er mit dem Bus nach Haue fahren kann. Aber er will es nicht darauf ankommen lassen, die horrenden Strafen zu bezahlen, die fällig werden, wenn er im Zug keine Fahrkarte vorweisen kann. Und wie soll er vorher wissen, ob der Automat diesmal funktioniert, mit dem er auf Rat der Schaffner eine Anzahlung bis Salzwedel machen könnte, weil er ja nicht bis zu seinem Zielbahnhof lösen kann? Auf eine diesbezügliche Frage gibt es am Schalter in Salzwedel keine Auskunft. Das Problem interessiert dort auch nicht, denn Schnega gehört zu Niedersachsen, die nächste Station, Salzwedel, zu Sachsen-Anhalt. „Nicht unser Problem.“ Ende.
Aber nun, nach jahrelang eingefahrenen Gewohnheiten mussten plötzlich die Leute zu ihrer Überraschung feststellen, dass neuerdings ein paar der Züge doch auf Gleis 2 halten. Auf den kleinen Faltplänen für den Regionalverkehr ist das natürlich nicht vermerkt und auch auf dem Bahnsteig gibt es nirgendwo einen ins Auge fallenden Hinweis auf die Veränderung. Wenn man allerdings die hundert Meter vom Bahnsteigeingang zu der überdachten Wartehalle geht, an der der neue Fahrplan angeschlagen ist, kann man tatsächlich lesen, dass Gleis 2 seit März diesen Jahres für einige Züge ausgewiesen ist. Aber warum sollte Herr Schenk, der seine Fahrkarte in Salzwedel gekauft hat, die hundert Meter zum Wartehäuschen laufen, wo der kurze Zug doch meist am Eingang zum Bahnsteig hält und das Wartehäuschen gar nicht erreicht? Die Leute gehen dort nur hin, wenn es fürchterlich regnet.
Neuerdings also halten einige Züge auf Gleis 2. Auf Gleis 2 aber gibt es keinen Fahrscheinautomaten mehr. Jetzt rufen also die, die es schon wissen, den Leuten auf Gleis 1 zu, dass sie wechseln müssen. Was das bedeutet, habe ich schon beschrieben. Junge Männer und Frauen und Leute ohne Gepäck rennen über die Gleise, was natürlich verboten und gefährlich ist, weil durch Streckenarbeiten anderswo nun häufig ICEs durchbrausen, die kaum vorher zu sehen sind. Andere sitzen auf ihren Koffern und weinen, wenn sie den Irrtum bemerken.
Alle sind gespannt, ob Mehdorn 2 ähnlich elegant seine Aufgaben lösen wird wie M1.
Helke Sander