Deutschland 1989. 16 mm, Farbe, 6 Minuten. Produktion: Helke Sander Filmproduktion. Regie und Buch: Helke Sander. Kamera: Lilly Grote. Schnitt: Wolfgang Heine. Musik: Franz Liszt, „Die Vogelpredigt“
Zum Film
Frau S. als moderner Franz von Assisi: Die Vögel fliegen zu ihr hin. Frau S. baut aus Legosteinen Gefäße und Häuschen, denen die Vögel nach komplizierten Anstrengungen Nüsse entnehmen können.
Ich werde manchmal danach gefragt, warum ich diesen Film gemacht habe. Wegen meiner Mutter, nicht wegen der Meisen. Als Kind glaubt man, die Eltern zu kennen. Darum war ich erstaunt über diese vollkommen neuen und befremdlichen Seiten, von denen meine Mutter sich mir plötzlich zeigte. Sie fragte mich nach Legosteinen. Wozu braucht eine Großmutter Legosteine, wenn der Enkel schon erwachsen ist? Ja, sie konstruiere da etwas für die Meisen. Sie erzählte mir am Telefon, dass sie mit den Vögeln spreche. Als ich sie einmal besuchte, konnte ich das miterleben. Sie sprach zu den Vögeln ganz normal, so wie zu mir. Wenn sie auf dem Balkon saß und las, setzten sich die Meisen dazu. Sie beklaute andere Kinder und baute Türmchen und englische Telefonhäuschen. Begonnen hatte diese Vogelbeziehung in meiner Erinnerung mit ZACK-ZACK, der Meise, die morgens gegen die Scheibe pickte, offenbar um ihre Nussration abzuholen. Eigentlich soll man ja Vögel nicht füttern, um sie nicht zu verwöhnen. Das dachte ich, aber meine Mutter wischte den Einwand weg. Irgendwann flog ZACK-ZACK auf ihre Hand. Ich hörte das alles per Telefon. Dann kam PARKETTRUTSCHER hinzu. Diese Meise hatte die Eigenschaft, bei geöffneter Balkontür auf dem Wohnzimmerboden herumzuschlittern und zu rutschen und dann wieder fortzufliegen. Mein Favorit war BEETHOVEN. Er kam immer angeflogen, wenn meine Mutter das 5. Klavierkonzert von Beethoven auflegte und zwar nur dann. Ich wollte es zuerst nicht glauben, habe es aber wirklich bei einem Besuch bezeugen können. Er setzte sich aufs Gitter, hörte bis zum Ende zu und flog wieder weg. Keine andere Musik war dazu in der Lage.
EINAUGE war der Liebling meiner Mutter. Eines Tages saß er auf dem Balkon. Ein Auge hing heraus. Vermutlich hatte er Schmerzen, konnte nicht sehen und keine Nahrung finden. Offenbar verstand meine Mutter, was er wollte, mahlte ihm die Haselnüsse, streute sie zwischen die Blumen, was die anderen Meisen respektierten und niemals aufpickten, was für ihn gedacht war. Niemals, betont meine Mutter. Als das Auge eingetrocknet war, kam sie im folgenden Jahr mit vier kleinen Meisen auf den Balkontisch meiner Mutter geflogen, halb verhungert, weil sie sie offenbar nicht ernähren konnte und ließ die Kleinen von ihr füttern. Im fünften Jahr setzte sie sich auf das Balkongitter, wartete, bis meine Mutter hinzukam, dann standen sie sich Auge in Auge eine lange Zeit gegenüber, meine Mutter sprach zu ihr und erzählte mir später am Telefon, dass sich EINAUGE von ihr verabschiedet habe. Sie würde wohl jetzt sterben. So war es auch. Sie trauerte. Wir sprechen hier von Wildvögeln. Ich konnte sie kaum unterscheiden. Sie hatte damit keine Probleme.
Aus den Legosteinen baute sie für alle anderen Meisen, die zusätzlich kamen, diese vorher erwähnten Häuschen, bei denen entweder mehrere Zahnstocher nacheinander herausgezogen werden mussten, bevor die Nuss zugänglich wurde oder eine Tür musste an einem Faden aufgezogen werden.
Ich hatte noch ein bisschen Filmmaterial und dachte, dass vielleicht wenigstens die Kunststückchen mit den Häuschen filmbar wären, wenn wir, die Kamerafrau Lily Grote und ich, nur weit genug weg wären. Wir wurden den Meisen von meiner Mutter vorgestellt und hielten fest, was jetzt zu sehen ist.
Helke Sander, 2003
Frau S. und eine Meise, © Helke Sander Filmproduktion