BeFreier und Befreite – Rezeption (2)

Helke Sander ©

Für das Publikum in St. Petersburg/ Leningrad

Es tut mir leid, dass ich zur Aufführung des Films „BeFreier und Befreite“ nicht auf den Filmfestspielen sein kann und Barbara Johr mit diesem Film allein vor dem Publikum steht. Das ist mir deswegen unangenehm, weil ich weiss, dass es gerade in Leningrad/ Petersburg, dieser Stadt, die so sehr unter der deutschen Politik leiden musste, schwierig sein wird, einen Film zu sehen, der sich mit Gewalttaten befasst, die in erster Linie von angehörigen der Roten Armee ausgingen. Ich möchte vorausschicken: Ich habe diesen Film nicht gemacht, um Gewalttätigkeiten miteinander zu verrechnen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass eine Gewalt sich nicht mit einer anderen auslöschen lässt, sondern höchstens neue erzeugt. Wie Sie wissen, handelt der Film von den Massenvergewaltigungen an – hauptsächlich – deutschen Frauen gegen Ende des zweiten Weltkrieges. Wir wissen alle, welche Zerstörungen durch die deutschen Truppen und die SS diesen Ereignissen vorausgingen. Dennoch würde ich beides, die deutschen Greuel in der Sowjetunion und die Vergewaltigungen nicht in einen gewissermassen „natürlichen“ kausalen Zusammenhang bringen. Wenn auch Frauen Nazis waren, waren sie doch nicht unmittelbar Verursacherinnen russischer Leiden. Die Männer, die später als Gefangene sowjetischen Menschen ausgeliefert waren und diejenigen waren, die die Verwüstungen angerichtet hatten, wurden dafür nie sexuell verstümmelt oder in ihrer geschlechtlichen Identität zerstört wie die vergewaltigten Frauen. Wir wissen heute, dass Vergewaltigungen kein Ausdruck einer aggressiven Sexualität ist, sondern ein sexueller Ausdruck für Aggression gegen Frauen. Diese Aggression ist ziemlich unabhängig von der jeweiligen Nationalität. Durch die Untersuchungen der Frauenbewegung wissen wir heute, in welcher Massenhaftigkeit auch in Friedenszeiten Gewalttaten durch die „eigenen Männer“ begangen werden. Die Ereignisse in Jugoslawien heute zeigen, dass kein grausamer Krieg diesen Kriegsverbrechen an Frauen vorangegangen sein muss. Es sind ehemalige Nachbarn, Freunde, Schulkameraden, die von heute auf morgen die Frauen vergewaltigen, die zur „falschen“ Nation gehören. Und eine Frau, die dieses Verhalten kritisiert, gehört immer zur falschen Nation.

Der Film fragt aber weniger, warum vergewaltigt wurde, sondern er fragt hauptsächlich, warum die Frauen, deren Leben dadurch so sehr geprägt wurde, so lange geschwiegen haben und er fragt und untersucht, in welchem Ausmass dies damals geschehen ist.

Es ist ein Film über Geschlechterdifferenz weit mehr als ein Film über Russland und Deutschland, auch wenn ein Teil der Angst, die Deutsche und Russen hier und da noch voreinander haben mögen, sich natürlich auf die Erlebnisse beziehen, die Angehörige beider Völker miteinander hatten.

Für mich ist der Film also ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern. Normalerweise haben Frauen nachts auf der Strasse nicht Angst, weil der Mann, der hinter ihnen hergeht, Deutscher, russe oder Jugoslawe sein kann, sondern weil er ein Mann ist. Ein alter bosnischer Mann, der gezwungen wurde,  tagelang den Vergewaltigungen der Frauen zuzusehen, sagte, nachdem er frei gelassen worden war, dass sein grösster Wunsch sei, kein Mann mehr sein zu müssen, denn er schäme sich für sein Geschlecht und ekele sich davor.  Dieser Film ist ein Beitrag zur Geschlechterfrage. Er ist sehr lang, aber, Sie werden es merken, für alle auftauchenden Fragen, die ungelöst bleiben, viel zu kurz.

Zum Schluss möchte ich mich sehr herzlich bei all denen bedanken, die mir durch ihr Verständnis und ihre konkrete Hilfe in Minsk und in Moskau geholfen haben, diesen Film zu realisieren, weil sie sich auf meine Fragen eingelassen haben.

Danke.

Februar 1993