…oder auch: Wie eine Landschaft verhunzt und am eigenen Ast gesägt wird
Für Ortsunkundige: Fahren Sie mal die einstündige Strecke Berlin-Salzwedel mit dem Wawel-Express Hamburg-Krakau und lassen sich von der Landschaft bezaubern. Sie sehen Wiesen, kleine Wälder, Kopfweiden, Dörfer mit Backsteinhäusern, die noch so geschlossen zu sein scheinen wie vor hundert Jahren. Die vorherrschende Farbe im Sommer ist rot und grün. Dazwischen immer wieder kleine Feldsteinkirchen. Die Elbe, über die Sie fahren, hat noch Auwiesen, ist nicht einbetoniert wie inzwischen die meisten anderen Flüsse. Vielleicht stehen die Bäume, die Sie gerade sehen, mitten im Wasser.
Nehmen Sie allerdings einen anderen Zug für die gleiche Strecke, müssen Sie unter Umständen in Stendal einige Stunden warten, bevor der nächste kommt und Sie können sich auch nicht – sollten Sie Gepäck dabei haben – in der Zwischenzeit etwa die Stadt ansehen, die mit ihren Schönheiten wirbt, weil die Bahn gerade alle Schliessfächer auf dem Bahnhof hat abbauen lassen und alle Verantwortlichen und übrigen Bürger das offenbar einfach so hinnehmen.
Die regionalen Zeitungen informieren Sie laufend über enorme Aktivitäten von Gemeinden, Organisationen und Einzelpersonen bei der Entwicklung des Tourismus. Es gibt Städtetage, Hansetage, 1000-900-800-Jahrfeiern, Gartenschauen, Museumsnächte, Grüne-Band-Touren, Altmark-Touren, Ausgrabungen… Viele Leute geben sich wirklich Mühe, das Land für Urlauber interessant zu machen. Aber über das Problem, das Ihnen bald beim Durchfahren mit Zug oder Auto in die Augen springt, werden Sie kaum etwas lesen:
Sie werden bald merken, dass etwas mit der Landschaft nicht stimmt. Wenn Sie aus der Stadt sind mit kleiner Sehnsucht nach der Ruhe des Landlebens, wird es Ihnen auffallen: die Landschaft ist ziemlich menschenleer, weil nur wenige Leute dort tatsächlich wohnen und genau das macht sie auf den ersten Blick auch so reizvoll, auf den zweiten Blick aber merken Sie, dass es zum grossen Teil keineswegs Landschaft ist, was Sie sehen, sondern Industriegebiet zur landwirtschaftlichen Nutzung. Sie fahren durch eine Gegend, in der Menschen gar nicht mehr vorgesehen sind. Vergessen Sie Wanderungen, Fahrradtouren und ähnliche erste Assoziationen. Es gibt dafür gar keine Wege, es gibt nur grossflächig angebaute Felder, denen alle Pfade, Knicks, Hecken längst zum Opfer gefallen sind. Die Zeiten, in denen Bauern eine Kulturlandschaft geschaffen haben, sind vorbei. Heute zerstört die Landwirtschaft die noch vorhandenen Reste.
Hier kann und will niemand mehr hin. Die Gemeinden, Städte, Tourismusplaner, die sich immer mehr Grossereignisse einfallen lassen, müssten mal begreifen, dass der Reiz dieses Landes in der Landschaft liegt, die heute mehr und mehr zur Durchrasestrecke zwischen zwei oder drei meist städtischen „Events“ verkommt. Die Leute, die sich für dieses Bundesland interessieren, würden sich wünschen, dass über sie einmal nachgedacht würde, bevor man sie immer wieder mit erzgebirgischen Holzarbeiten aus China oder mit geplanten und bald Pleite gehenden Luxushotels konfrontiert oder zu locken versucht. Paris Hilton wird hier kaum ihre Ferien verbringen wollen. Wer aber grosse Augen kriegt beim Hindurchfahren sind Menschen mit Kindern, sind rüstige RentnerInnen und der halbwegs gebildete, aber keineswegs reiche Mittelstand. Es sind kulturinteressierte und neugierige Leute aller Altersgruppen, die gerne in Deutschland Urlaub machen und denen entgegen kommt, dass kaum ein Berg über 50 Meter hoch und das Klima verträglich ist, eine Landschaft also wie geschaffen zum gemächlichen Radeln und Wandern, wenn es noch eine Landschaft wäre. Diese Türöffner wollen Bewegung verbinden mit Besichtigung. Fast in jedem Dorf lässt sich Geschichte erfahren und ablesen. In den dazugehörigen Städten wird sie lediglich verdichtet. Diese Leute wollen nicht unbedingt Erlebnisbäder, sondern einfache Freibäder, sie sind dankbar für Hinweise auf regionale Besonderheiten. Sie sind neugierig auf regionale Kost und schmeissen keinen Müll und leere Flaschen in die Wälder. Man kann sie weniger locken mit rustikalen Wagenrädern vor den Häusern oder Kunstblumenkränzen an den Haustüren, sondern eher mit selbstgemachter Marmelade zum Frühstück. Sie haben gern ein Licht am Nachtisch, bei dem man abends lesen kann (was diese Leute tun), ohne sich die Augen zu verderben. Sie schätzen einen Fernseher mit freier und nicht angebundener Fernbedienung und ordentlich eingestellten Programmen, die auch 3-Sat, Phoenix und ARTE einschliessen und nicht nur Verkaufssender und die Privaten.
Es sind genau diese Leute, die erkennen, dass manche Dorfkirchen noch über und über mit spätgotischen Malereien bedeckt sind wie in Bombeck und sich vielleicht sogar einer Initiative zum Erhalt anschliessen würden. Es sind diese Leute, die sich freuen würden über einen Stand oder ein Gasthaus das einfach Pellkartoffeln mit selbstgemachtem Kräuterquark oder, wenn schon Schnitzel, dann ohne Sauce anbietet. Es sind Leute, die auf ihren Fahrrädern oder zu Fuss oder mit ihren kleinen Autos schon viel herumgekommen sind und die wissen, dass die Politessen beispielsweise in Bremen höflich sind und nicht schon das Auto fotografieren, wenn es auch nur eine Minute im Park- (nicht Halte)verbot steht . Das kann Ihnen aber in Salzwedel passieren. (Die Stadt ist berüchtigt für unhöfliche Politessen und positiv bekannt für die Erfindung des Baumkuchens). Diese Leute haben auch einen Blick für die Barbarei der Baumstümpfe in vielen Städten und kriegen mit, dass immer wieder in den Leserbriefen der Regionalzeitungen Bürger ihre Gemeinden auffordern, die sinnlose Abholzerei zu lassen. Diejenigen, die die Vorhut des Tourismus bilden und sich nicht leicht abschrecken lassen, sind ein bisschen „öko“, was in der altmark nicht den besten Ruf hat.
Ab und zu treffen Sie auf Einzelinitiativen: An einem Bauernhof oder einem Dorfhaus inseriert jemand, dass man hier Ferienwohnungen vermietet. Da stemmt sich jemand alleine tapfer gegen die Verhältnisse.
Denn was soll eine Familie auf einem Bauernhof, von dem aus sie keine Spaziergänge machen kann und weit und breit kein Gasthaus ist, in dem man sich zur Abwechslung mal mit Genuss niederlassen könnte? Noch ist die Altmark eben nicht Bayern, wo man immer abends ein Wirtshaus findet, die Atmossphäre angenehm ist, das Essen bezahlbar und vor allem schmackhaft. Leider riechen und schmecken Sie die Fertigsaucen über dem Fleisch und den Salaten bei fast allen Anbietern. Kein süddeutsches Gasthaus würde es wagen, einen solchen Frass vor Sie hinzustellen und dann auch noch unverhältnismässsig viel Geld dafür zu kassieren. Vergleichen Sie nur mal ein 7,50 -Essen im Gasthaus „Traube“ im kleinen Wurmlingen mit einem entsprechenden Essen im Gasthaus „Zur Post“ in Salzwedel. Das ist umso erstaunlicher und unverständlicher, weil die Altmärkerinnen zu Hause gut kochen können, begnadete Kuchenbäckerinnen sind und das „Selber Einkochen“ noch weit verbreitet ist. Wirtshäuser in Sachsen-Anhalt sind selten, das ist der Arbeitslosigkeit geschuldet und es wird sich auch nur langsam ändern. Die wenigen Gasthäuser in Betrieb aber verstärken eher die Probleme. Selten sind sie Orte der Gastlichkeit, häufiger Orte, an denen sich frustrierte Männer mit Bier und Schnaps vollaufen lassen und die Luft vollqualmen. Darum kommen sie praktisch nicht infrage für die vielen allein oder in Gruppen in andren Bundesländern herumreisenden Frauen. Es kann Ihnen passieren, dass es in einem Wirtshaus nicht einmal Mineralwasser gibt.
In einem Ausflugslokal Nähe Sandau an der Elbe können Sie in einem sensationell schönen Biergarten innerhalb eines Parks einen Kaffee bekommen. Aber was heisst hier Kaffee? Pulverkaffee mit Milch. Sie dürfen sich die Milch aber nicht etwa selber eingiessen. Das Ganze heisst dann Latte Macchiato und kostet soviel wie andernorts ein anständiger Kaffee. Mit etwas Glück können Sie heute noch an der Nordsee für 20 Euro übernachten und frühstücken, aber die muffigste Pension kriegen Sie in der Altmark, wo sich nicht mal die Füchse noch gute Nacht sagen, kaum unter 45 Euro. Die Leute haben meist viel investiert und wünschen sich eine schnell Amortisierung. Sie sind oft keine Profis in der Gastronomie. Das ist nicht schlimm, das kann man ja lernen. Aber wenigstens interessieren sollte man sich für die möglichen Gäste und nicht die eigenen Gewohnheiten automatisch auf andere übertragen. Viele der Pensionen und kleinen Hotels machen bald wieder dicht, weil niemand kommt. Darüber muss man sich nicht wundern.
Die paar Kleinode, in denen sich die Wirte Mühe geben, müssen Sie mit der Lupe suchen und es kann sein, dass Sie dann schon in Brandenburg sind (wo es prinzipiell aber ähnlich zugeht). Beim „Alten Quitzow“ an der Strecke Perleberg-Berlin gibt es eine selbstgekochte Suppe, die schmeckt. Im Gasthaus & Pension „Am Wachtelberg“, in Hasseloff gab es vor einem Jahr noch selbstgemachten gut schmeckenden Kartoffelsalat zur unvermeidlichen Wurst und eine freundliche Wirtin.
Auch die Freundlichkeit ist nicht selbstverständlich. Gratis gibt es nämlich in den Gasthäusern oft einen pampigen Ton. In den schönen Arendsee gehen ab und zu 2 Freundinnen morgens zum Schwimmen, weil sie immer noch in der Nähe Ferien machen. Sie kommen dabei regelmässig an einer Pension neben dem See vorbei, in der Pensionsgäste im Garten frühstücken. Sie fragen höflich, ob sie während der Zeit ihres Aufenthalts dort ebenfalls frühstücken können. Genügend freie Tische und Stühle stehen herum und Platz gibt es auch. Das wird brüsk und ohne Begründung abgelehnt, so, als sei es eine Zumutung, etwas Derartiges auch nur zu fragen.
Viele Probleme liessen sich leicht ändern. Andere sind schwieriger und erfordern Bürgerengagement. Das Wichtigste ist, die Landschaft wortwörtlich wieder begehbar zu machen und die kleinen ehemaligen Feldwege, die es vielleicht immer noch zwischen Dorf und Dorf gibt und die nur noch Einheimischen bekannt sind, einzubeziehen in ein grösseres und erweiterbares Konzept.
Noch gibt es gut funktionierende dörfliche Strukturen. Es gibt Netzwerke, die vielfach von Frauen gebildet werden und die so selbstverständlich sind, dass gar nicht über sie nachgedacht wird. Möglicherweise liesse sich das, was die Frauen sowieso machen – grosse Feste auszurichten, hunderte von Leuten umsonst zu bebacken und zu bekochen – langsam erweitern und sich peu a peu sogar dadurch Arbeit beschaffen. Vor allem die Frauen sind gestählt durch gemeinsame Arbeit. Natürlich kann nicht eine jetzt arbeitslose Frau in einem kleinen Dorf täglich eine Torte backen und darauf hoffen, dass Touristen bei ihr Kaffee trinken wollen. Aber hier und da gibt es schon jetzt Zusammenschlüsse. Wenn jemand aus dem Wendland, wo es Fahrradwege gibt, sich aufmacht, um in der Altmark herumzufahren und sie sich anzusehen (was vor Jahren häufiger vorkam als jetzt), dann spricht sich schnell herum und lässt sich unkompliziert wie beim Apothekendienst verbreiten, in welchem in der Nähe gelegenen Dorf es montags oder dienstags usw. Kaffee und Kuchen oder was auch immer gibt. In Diesdorf haben Frauen ein gemeinsames Kochbuch geschrieben und regionale Rezepte zusammengetragen. Sie backen wie gesagt die wunderbarsten Kuchen. Durch kleine, unspektakuläre Massnahmen durch Vernetzung und quasi nebenbei und mit ein bisschen Fantasie wäre die Gegend langsam in Schwung bringen.
Möglicherweise gibt es aber auch ein psychologisches Problem. Die Leute, die hier leben und arbeiten, haben ihre eigene Landschaft nie als Ferienlandschaft oder Touristenziel erlebt. Zu DDR-Zeiten gab es grossflächige Landwirtschaft und Tierhaltung. Die Landschaft war in erster Linie Arbeitsplatz. Wenn man frei hatte, wollte man „raus“: an die Ostsee und möglichst noch sehr viel weiter. Dass Sachsen-Anhalt, bzw,. speziell die Altmark, die ich am meisten beobachtet habe, aber eine einmalige Kulturlandschaft ist, in die andere Leute freiwillig hin wollen und auch wiederkommen würden, wenn die Anstrengungen nur in die richtige Richtung gingen, das muss erstmal begriffen werden. Das muss sich erstmal durchsetzen im Hirn.
Bayern war auch mal ein sehr, sehr armes Land und von niemandem freiwillig besucht. Den Anfang machten meines Wissens im 19. Jahrhundert abgehärtete Engländer, die keinen Komfort gewöhnt waren und auch keinen suchten. Sie kletterten auf die Berge und erholten sich auf den Almen und das sprach sich herum. Sie zogen wieder andere an. Zuerst vermietete jemand ein Bett, dann ein Zimmer, dann wurde ausgebaut und hier und da entstand sehr viel später dann auch ein Luxushotel und irgendjemand stellte ein Schild auf mit Hinweis zum nächsten Dorf. Die heutigen Vorreiter für eine solche Landschaft sind Rentner und kulturinteressierte Leute. Sie bringen grossen Investoren sicher keine Reichtümer, aber sie könnten die Grundlage für den dörflichen und städtischen Mittelstand schaffen und dafür, dass dieses schöne und traditionsreiche Bundesland positiv wahrgenommen werden kann. Die Schönheit der Altmark liegt in der möglich gemachten Langsamkeit, sie zu durchqueren, und in dem Stolz, etwas in der Realtität zu erhalten, was in den ganzen „Events“ meist nur Behauptung ist.