Minarettabstimmung

8. Dezember 2009

Statt in nahezu allen Kommentaren lesen zu müssen, dass die Schweizer Entscheidung ein Skandal sei, die Rechte auf dem Vormarsch, das Antidemokratische zur Kenntlichkeit entwickelt usw., würde ich gerne einmal analysiert haben, a) warum bei einer Volksabstimmung die Wahlbeteiligung so außerordentlich groß war und b), wie von mir nicht nachzuprüfen aber offenbar durch Fakten untermauert, so viele Frauen für das sogenannte Minarettverbot gestimmt haben. In den Kommentaren liest es sich so, als seien alle irregeleitet und auf dem Weg, Nazis zu werden. Gäbe es nicht noch andere Interpretationsmöglichkeiten?

Vielleicht haben ganz andere Überlegungen die Abstimmenden zu ihren Entscheidungen geführt. Überlegungen, die vielleicht mit dem Wort: „dauerndes Unbehagen“ gekennzeichnet werden könnten.

Ich will mal ein eigenes Erlebnis dazu beitragen, das mich immer noch umtreibt, weil ich nach wie vor nicht weiß, wie ich mich hätte verhalten sollen oder können. Und anders als in Situationen, in denen ein Nicht-Deutscher von einem Deutschen angegriffen wird, steht darüber dann am nächsten Tag nichts in der Zeitung:
Ein fast leerer U-Bahnhof in Berlin. Die Treppe herunter geht ein vielleicht dreißigjähriger hübscher bärtiger Mann in einem weißen langen Gewand mit weißem Käppchen. Hinter ihm stolpert eine vollkommen in eine schwarze Burka gehüllte Frau, die nicht mal das traditionelle Gitter vor dem Gesicht hat, sondern vollkommen schwarz verhüllt ist. Sie kann offenbar gar nichts sehen. Von den Bewegungen her ist sie jung und schlank, vermutlich Anfang zwanzig und seine Frau. Der Mann steuert sie, indem er sie von außen fest am Unterarm gepackt, hinter sich herzieht. Sie muss ja auch noch Abstand zu ihm halten und sich möglichst nicht die Knochen brechen.

Darf das in Berlin sein? Ist EINE so behandelte Frau tragbar, HUNDERT aber nicht? Ist das mit unserem Grundgesetz vereinbar oder gehört das auch zur Glaubensfreiheit des Mannes? Würde ein solches Verhalten einem Mann gegenüber nicht Folter genannt?
Ein immer wieder auftauchendes Argument in den Kommentaren zur Abstimmung lautet, dass die ca. 400.000 Moslems in der Schweiz gut integriert seien und das Abstimmungsergebnis schon deswegen absurd. Wenn man allerdings bisschen recherchiert, wird man feststellen, dass es auch in der Schweiz Ehrenmorde gab und Zwangsheiraten und dass die Schweiz immerhin schon Gerichtsurteile gefällt hat gegen die auch im übrigen Europa zunehmende Zahl von Klitorisbeschneidungen. Und den abstimmenden Frauen in der Schweiz dürfte auch nicht entgangen sein, dass in allen vom Islam geprägten Ländern Frauen entweder rechtlos sind oder jedenfalls sehr in ihren Rechten beschnitten. Insofern ist dieses Abstimmungsergebnis meiner Meinung nach ein solidarischer Akt mit unterdrückten und um ihre Freiheitsrechte kämpfenden Frauen aus islamisch geprägten Ländern, es ist aber auch eine Aufforderung, gründlich darüber nachzudenken, ob wir in Europa dabei sind, die mühsam errungenen zivilen Errungenschaften möglicherweise leichtfertig aufs Spiel setzen. Bestimmte Ängste sollen ausdiskutiert werden (Das hieße nebenbei gesagt: Geschlechterfragen in die Politik zu bringen).

Im gleichen Atemzug wie die Kritik am Abstimmungsverhalten, wird auch darauf verwiesen, dass Gewerkschaften, Kirchen, alle möglichen Verbände und Parteien als Institutionen anders abgestimmt hätten. Ausnahmsweise haben nun die Repräsentierten, die ja diese Institutionen bilden, selber ihre Meinung ausdrücken dürfen und darauf hingewiesen, dass sich manche Fragen nicht schematisch abbügeln lassen. Es wird darauf verwiesen, dass bei einer möglichen Volksabstimmung in Deutschland der größte Teil gegen Atomkraft stimmen würde (da wäre die Bevölkerung „reif“ und „gut“) , vermutlich ebenso viele gegen die Europaverträge (da wären sich die Kommentatoren uneins) und in ebenso hoher Zahl gegen die sogenannten Minarette (da wären die gleichen schon als Rechte abgestempelt).

Zunehmend wird mit dem Begriff „Glaubensfreiheit“ argumentiert und seinen Schutz durchs Grundgesetz.
Man möge hier nicht vergessen, dass der Kampf gegen die Intoleranz der Kirchen Jahrhunderte gedauert hat und die Trennung von Staat und Kirche ein ungeheurer Schritt in die Zivilgesellschaft war. Dass überhaupt die Kirchen heute in Fragen der Moral so ausführlich zu Wort kommen dürfen, als schleppten nicht gerade sie Jahrhunderte währende Schreckenstaten mit sich herum, wäre in diesem Zusammenhang auch zu erörtern. Obwohl in deutschen Großstädten die Mehrzahl der Menschen sich als Nichtgläubige oder Konfessionslose definieren und im deutschen Osten auch die Landbevölkerung, wird in der Öffentlichkeit so getan, als seien die christlichen Kirchen Horte der Toleranz. Dass sie nun so sehr für die Moscheebauten eintreten, hat vermutlich auch noch andere als nur hehre Gründe. Wie man weiß, sind die Kirchen weitgehend leer, aber die Moscheen sind voll.
Die Moscheen oder moslemischen Betstuben, die es seit den Siebzigern in Deutschland gibt, waren anfangs auch nicht voll. Und es gab praktisch keine Kopftuch tragenden Frauen oder Mädchen. Es ist also schon eine Untersuchung wert, woher der plötzliche Einbruch von Frömmigkeit plötzlich kommt, wie er finanziert wird und von wem er ausgeht. Dies alles nur mit einem Gefühl nach Transzendenz zu erklären, dass plötzlich unsere hauptsächlich türkischen Mitbürger befallen haben soll, scheint doch ein wenig zu simpel. Aber genau darauf berufen sich alle, die jetzt nach der „Freiheit der Religionsausübung“ schreien. Und dieser einfachen Lösung haben die SchweizerInnen gerade versucht, einen Riegel vorzuschieben.
Helke Sander © Dezember 09