Bemerkungen zu den ersten ca. 80 von über 500 Seiten des Bestsellers von Yuval Noah Harari:
„Eine kurze Geschichte der Menschheit“
Das Buch ist 2015 als Taschenbuch bei Pantheon in der 17. Auflage erschienen. Ich habe es erst gelesen, als ich mein Buch „Die Entstehung der Geschlechterhierarchie“ 2016 für den Druck fertig hatte. *)
Wir befassen uns mit dem gleichen Thema: der menschlichen Evolution und dem einige Millionen Jahre dauernden Weg vom Tier, genauer den Primaten, zu verschiedenen Arten untergegangener Vormenschen, bis hin zu Neandertalern, Denisowa-Menschen und schließlich zum Homo sapiens in der jüngsten Entwicklung. Harari (im Folgenden: H.) geht auf S. 29 davon aus, dass homo sapiens den Neandertaler vernichtet hat. Die Begründung dafür ist dürftig und lässt sich kaum belegen und schon gar nicht lässt sich darauf aufbauen.
Die Zahlen der insgesamt in Europa lebenden Neandertaler zur Zeit der einwandernden sapiens-Menschen wird von anderen Forschern sehr unterschiedlich bewertet. Sie schwanken zwischen 10.000, 70.000 bis hin zu 250.000 und mehr Menschen. Selbst die höchste dieser vermuteten Zahlen weist auf eine äußerst geringe Bevökerungsdichte hin, auf die die einwandernden sapiens erstmal treffen mussten. Die kamen ja auch nur in kleinsten Gruppen in zeitlichen Abständen und nicht gleichzeitig nach Europa, wo sie sich in alle Himmelsrichtungen verstreuten, sich leicht verfehlen konnten und vielleicht nie begegneten.
H. vermutet bei Schimpansen eine Gruppengröße von 20 bis 50 Tieren und überträgt diese Zahl etwas verschwommen auch auf Neandertaler und sapiens.
Soweit mir bekannt, sind die Erkenntnisse über die Größe zusammenlebender Menschengruppen jener Zeit nach wie vor unsicher. Bei Neandertalern wird sie durch die Forschung mit ca. 10 -20 bis höchstens 30 Menschen vermutet, also deutlich weniger als H. angibt. Ca.10 Leute sind schon eine ganze Menge in der Vorzeit, vor allem, wenn man die Gesamtzahl der in Europa lebenden Neandertaler wie oben beschrieben mit ca. 10.000 angibt.
H. erwähnt Brandrodung als Ursache für das Aussterben, aber vor allem die Ausrottung der Neandertaler durch den homo sapiens, wobei er zu absurden Zahlenverhältnissen kommt: 50 Neandertaler gegen 500 sapiens.
Über den Untergang der Neandertaler gibt es verschiedene Vermutungen, wobei ihre Vernichtung durch sapiens die geringste Rolle spielt. Beim Aufeinandertreffen mit den Neuankömmlingen waren sie offenbar neugierig aufeinander genug, was wir heute noch mit unseren Genen beweisen. Zu den Gründen, die die Neandertaler zum Verschwinden brachten gehörten vermutlich sowohl klimatische Veränderungen, Selbstzerstörung der Lebensgrundlage durch Vernichtung von Wildtieren, der Ausbruch der Phlegräischen Felder vor rund 37.000 Jahren mit Verwüstungen über die Alpen hinweg u.a.m.
Auf die sich häufenden Behauptungen ohne Beweise bin ich immer öfter gestoßen, was ich im Folgenden weiter belegen will.
Vorwegnehmen möchte ich aber eine andere Beobachtung, die sich mir gewissermaßen als Grundstimmung beim Lesen dieser ersten Seiten zunehmend aufdrängte: Das ist die durchgehende Geringschätzung und Vernachlässigung von Frauen in seinem Text.
Es ist ihm offenbar zuwider, Frauen überhaupt als entwicklungsfähige Wesen zu erwähnen.
Die Tätigkeiten von Männern werden häufig genau beschrieben, z.B.: „Männer stellten Werkzeuge her“ ohne hinzuzufügen, dass Frauen dies ebenso taten.
Es fängt schon mit dem Foto am Anfang des 1. Kapitels an. Es zeigt den Abdruck einer Hand aus der Chavet-Höhle. H. schreibt: „Abdruck einer menschlichen Hand“. Das ist nicht falsch, aber die meisten Forscher heute sind sich inzwischen einig, dass die vielen Handabdrücke in mehreren bemalten Höhlen meist Abdrücke von Frauen- oder Kinderhänden zeigen und vermerken diese Erkenntnis auch, selbst wenn sie dies bezweifeln.
Auf S.12 beschreibt H. Mütter, die ihre Babys auf dem Arm tragen. Das ist eine ausgesprochen merkwürdige Behauptung, die gewissermaßen das „auf dem Arm tragen“ zur Dauereinrichtung von Müttern erklärt.
Hier wäre eine Bemerkung erforderlich gewesen, die die allmähliche Veränderung des Körpers unserer Vorfahrinnen zum aufrechten Gang erklärt hätte: die Veränderungen der Kauwerkzeuge, der Wirbelsäule, des Beckens, die längere Schwangerschaft, das unfertiger geborene Kind u.a. – und nicht zuletzt der Fellverlust – für Mutter und Kleinkind waren das Veränderungen mit gravierenderen Folgen als für Männer.
Ein Kind ununterbrochen auf dem Arm zu tragen, würde die Frau schwächen und unbeweglich machen. Der Fellverlust stellte die Frauen vor lebensgefährliche Probleme. Sie zu lösen brauchte es Verstand.
Deswegen habe ich in meinem oben erwähnten Buch lang und breit erklärt, dass vor allem Frauen darauf angewiesen waren, diesen schwerwiegenden Verlust, der vor ca. 1,5 Millionen Jahren eintrat, zu kompensieren und daraufhin mittels Verstand Tragetücher oder Gestelle erfanden, die die Kleinkinder auf dem Rücken hielten, so dass weiter beide Arme von den Frauen benutzt werden konnten. Mit einem Kind auf dem Arm hätten sie nicht lange überleben können. Die Hauptsache beim Aufrechten Gang war nach H.s Erkenntnis, dass die Hände frei wurden. Er spricht von den körperlichen Veränderungen der Elternschaft, offenbar, um nicht die Mütter zu erwähnen und immer wieder von der Sorge der Eltern für die Kinder. „Alleinerziehende Mütter sind kaum in der Lage, Nahrung für sich und den Nachwuchs heranzuschaffen“ oder, S. 19: „Menschenjungen sind bei der Geburt völlig hilflos und müssen von ihren Eltern über Jahre hinweg ernährt, beschützt und aufgezogen werden.“ Beweise für diese behauptete Elternfürsorge bleibt er leider schuldig. Er beschreibt nicht, dass sowohl die Primaten wie auch die Vormenschen bis hin zu den verschiedenen Frühmenschen jeweils ihre eigene Nahrung suchten und die Mütter die Kinder versorgten durch relativ lange Stillzeiten.
Auf S. 58 gibt H. zwar zu, dass Männer lange Zeit ihre Rolle bei der Befruchtung nicht kannten und „nicht wissen konnte, welches Kind von ihm stammte…“ und darum „kümmerten sich die Männer gemeinsam um den gesamten Nachwuchs.“
Männer konnten nicht nur nicht wissen, welches Kind von wem stammte, sie wussten vermutlich bis ins Neolithikum hinein auch nicht, dass sie überhaupt bei der Befruchtung eine Rolle spielten. Spätestens mit den Anfängen der Viehzucht wuchs diese Erkenntnis bei ihnen – nach einer Zeit des Nichtwissens von mehreren Millionen Jahren bis vor ca. 15.000 Jahren.
Die nicht erwähnte Produktionstätigkeit der Frauen bei H. kann endlos fortgesetzt werden. Noch ein kleines Beispiel: lange Zeit war unklar, ob der später so genannte knapp 40.000 Jahre alte Löwenmensch, der aus Bruchstücken auf der schwäbischen Alp mehrmals neu zusammengefügt wurde, ein weibliches oder männliches Wesen darstellen sollte. Darum wurde er als Kompromiss unter Archäologen später Löwenmensch genannt und nicht Löwin oder Löwe.
Der männliche Mensch wird bei H. mit dem Alphatier bei den Schimpansen verglichen und die Alpha – Bonobo-Frauen, mit denen wir noch mehr Gene teilen als mit den Schimpansen, werden zwar mal erwähnt, aber in einem anderen Zusammenhang.
Auch auf anderen Gebieten strotzt der Text von Ungenauigkeiten,
Auf S. 39 und folgende bezeichnet H. die Zeit zwischen 70.000 und 30.000 Jahren als kognitive Revolution.
In dieser Zeit soll der homo sapiens und zwar nur er die Sprache entwickelt haben und zwar besonders die sogenannte fiktive Sprache, in der ausgedrückt werden kann, was man möchte oder was möglich wäre. Den Neandertalern wird die Sprachfähigkeit abgesprochen, obwohl die Forschung auch schon bei Erscheinen seines Buchs 2011 belegen konnte, dass die Neandertaler die medizinischen und anatomischen Voraussetzungen zur Sprachfähigkeit hatten.
Typisch ist auch hier wieder, dass H. nicht einmal darauf kommt, wie wichtig eine Sprachkommunikation zwischen Kind und Mutter sein könnte. Durch einfache Laute könnten sie sich ab einem bestimmten Alter gegenseitig ihrer Nähe vergewissern und beruhigen. Vielleicht führte die Sorge für das Kind überhaupt zur Entwicklung sprachähnlicher Laute und wurde dann auch von Männern erkannt und benutzt.
Ganz wesentliche grundlegende Entwicklungen wurden weit vor seiner so genannten kognitiven Revolution entwickelt. Das geschah zu einer Zeit, als einzelne Menschengruppen zwar noch immer auch die gleiche Nahrung suchten, aber schon anfingen, sich zu spezialisieren. D.h. als es schon Tendenzen gab, dass Frauen mehr Kenntnisse über Pflanzen gewannen und Männer begannen, gemeinsam Tätigkeiten nachzugehen statt sich als Einzelwesen zu behaupten.
Ich habe in meinem Buch nachgewiesen, dass es eine absolute Sensation in der Menschheitsgeschichte war, als Frauen anfingen, die überschüssigen unterschiedlichen Produkte von Männern und Frauen wahrzunehmen und damit anfingen, die ersten gegenseitigen Handelsbeziehungen zwischen Männern und Frauen zu entwickeln. (Darauf will ich hier nicht weiter eingehen. Ein neuer Text zu dieser Entwicklung erscheint demnächst).
Wo wir übereinstimmen ist die Beobachtung, dass auch kleinste Veränderungen hunderttausende von Jahren brauchen konnten, um zu neuen Techniken und Erfindungen zu führen. S.50.
Nicht zutreffend bzw. völlig daneben ist meiner Erkenntnis nach die folgende Bemerkung von H., gestützt auf seine Lieblingsthese der kognitiven Revolution: „…während sich die Verhaltensweisen der Urmenschen über Zehntausende von Jahren nicht veränderten, konnte der homo sapiens seine Verhaltensweisen innerhalb von ein oder zwei Jahrzehnten völlig über den Haufen werfen.“
Das ist eine kühne Behauptung für die nichts spricht.
Die langsamen aber ständigen Veränderungen seit der Trennung von den Primaten vergrößerten ständig das Hirn und das nahm an Schnelligkeit unaufhaltsam zu – bis heute. Nehmen wir als Beispiel das Werkzeug Stein. Eine Nuss mit einem Stein zu knacken, hatten schon Affen erfunden (Es sei denn, sie haben es auch erst nach langer Entwicklungszeit gelernt). Hatten sie das geschafft, ließen sie den Stein liegen und suchten am nächsten Tag einen neuen Stein. Dann kamen sie darauf, dass der Stein auch für andere Zwecke praktisch war. Vielleicht versteckten sie irgendwann ein besonders handliches Stück und benutzten es immer wieder. Noch später suchten sie nach Steinen, die noch besser in der Hand lagen, bis sie darauf kamen, den Stein nach ihren Wünschen zu beschlagen usw. Immerzu erfanden sie neue Verknüpfungen – sie wurden klüger, erst langsam, dann immer schneller. Ständig gab es minimale Veränderungen – siehe Fellverlust – die das Denkvermögen herausforderten und dazu führten, dass wir im Lauf der Jahrmillionen zu einem größeren Hirn kamen, uns zu sozialen Wesen entwickelten und laufend neue Strukturen des Zusammenlebens erfanden.
H. setzt nun als Lieblingsidee eine sprunghafte Entwicklung ab 70.000 Jahr v. d.Z. an, begrenzt diese Entwicklung auf 30.000 Jahren vor d.Z. und erklärt diesen Zeitabschnittt als einen, der für die Menschen nicht mehr durch die Biologie bestimmt ist, sondern durch soziale Erkenntnisse.
Dadurch erspart er sich, die sozialen Veränderungen durch die Feuernutzung zu beschreiben, und zwar in einer Zeit, die weit vor diesen 70.000 Jahren liegt. Die erste belegte Feuernutzung gab es vor ca. 780.000 Jahren im heutigen Israel. Das Wissen darüber konnte durchaus wieder verloren gegangen sein und an anderer Stelle und später neu entdeckt werden.
Neue Erkenntnisse und Herausforderungen verbreiteten sich ständig durch die Wanderungen der verschiedenen Vormenschen. Sie kamen in Gegenden, die neue Fähigkeiten verlangten. Einige schafften das, andere nicht und fielen den neuen Herausforderungen zum Opfer. Unter Umständen konnte es Jahrhunderte oder länger dauern, bis einmal schon von anderen gemachte Erleichterungen neu entdeckt wurden.
Die in den 90er des letzten Jh. entdeckten „Schöninger Speere“ haben ein Alter von ca. 300.000 Jahren.
„Sie sind die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Welt und ein wichtiger Beleg für die aktive Jagd des Homo heidelbergensis. (Wikipedia) .“
Diese Waffen lassen erkennen, dass sie offenbar nur von Männern benutzt wurden und diese Männer schon etwas gemeinsam machten – also die Zeiten lange hinter sich gelassen hatten, als noch jede und jeder für sich selbst die meist gleiche Nahrung suchte und es noch keine Unterschiede in den Tätigkeiten von Männern und Frauen gab.
Was auch nicht zur Sprache kommt und zumindest auf den ersten ca. 80 Seiten diese merkwürdige Theorie über die kognitive Revolution infrage stellen könnte, das sind die vielen tausend gefundenen Statuetten, die Frauen, oft schwangere oder gebärende Frauen darstellen und darauf hinweisen, dass die Männer vor 30-40.000 Jahren noch keine Ahnung hatten von ihrem Anteil an der Befruchtung. Sie versuchten eher, dieses Wunder auch bei sich selber zu erreichen durch die verschiedensten Blutrituale – bis heute. Das erklärt auch, warum nach der Verehrung verschiedenster Naturerscheinungen diese schließlich zu Göttinnen weiterentwickelt wurden, sehr viel später zu weiblichen und männlichen Göttern und schließlich zu der Vorstellung von einem allmächtigen Gott.
Helke Sander © 2024
*) Helke Sander: Die Entstehung der Geschlechterhierarchie Als unbeabsichtigte Nebenwirkung Sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts
Ein Essay Verlag Z&G 2017
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